Gedankenimpuls
Der Gedankenimpuls erscheint mehmals im Jahr. Den kompletten Brief kannst du dir jeweils aktuell herunterladen. Die andere Möglichkeit ist die Bitte um Aufnahme in meinen Verteiler per Mail.
Der Gedankenimpuls
Zugabe gefällig?
Bei einer Tagung freue ich mich in der Regel auf das Büffet. Ich liebe die Vielfalt, den Anblick, den Geruch und bin voller Vorfreude auf das, was ich gleich probieren darf. Dabei stehe ich nicht so gerne hinten in der Schlange, sondern lieber weit vorne – wegen der noch vorhandenen Auswahl und der Frische.
Dabei habe ich sehr gut im Blick, ob es wohl für alle Gäste reichen wird. Ich stand schon mal bei einer Hochzeit in der Reihe mit der Frage: „Was ist das für so viele!“ Irgendjemand vom Caterer Service war fürs Nachlegen zuständig, aber meine Skepsis bestätigte sich. Es war nicht genug da für die vielen Gäste.
Ich mag es nicht, hungrig zu bleiben bei einem Fest oder bei einer Tagung. Das gemeinsame Essen gehört dazu und es darf reichlich sein. Fest und Fülle gehören zusammen. Ich kann Maß halten und sogar verzichten – wenn ich es vorher weiß, mich darauf einrichte und es einfach für mich beschließe. Dann kann ich sogar an einem übervollen Büffet vorbeigehen und es ignorieren.
Aber ich muss auch zugeben: Da gibt es in mir einen gierigen Teil, die Lust und die klare Absicht, so oft es geht, vorne mit dabei zu sein. Wenn du mit vier Geschwistern aufwächst, ist das eine notwendige Überlebensstrategie.
All das erzähle ich dir, um dich mitzunehmen zu meinem Grundgedanken aus der Überschrift: „Zugabe gefällig?“ Beim Büffet liebe ich den Nachschlag. Nach dem ersten Gang bin ich so ungefähr satt. Ich habe den Konkurrenzkampf bestanden und das Überleben gesichert. Der „Nachschlag“ hat eine andere Qualität. Da muss nichts mehr. Ich darf einfach genießen. Das Tempo herausnehmen, achtsam sein und genauer hin spüren. Wie mag das Rezept dazu wohl sein? Könnte ich das nachkochen? Wenn ja, wie? Der Zugabe möchte ich gerne mit dir meine Aufmerksamkeit schenken.
Die Familientherapeutin Virginia Satir hat einmal eine Vorstellung vom Umarmen geprägt, die ich sehr mag. Sie sagt: „Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben, acht Umarmungen pro Tag, um uns gut zu fühlen, und zwölf Umarmungen pro Tag zum innerlichen Wachsen.“
Es geht nicht um die genaue Anzahl der Umarmungen, aber es geht um den Unterschied, der den Unterschied macht. Drei Fragen im Hintergrund nehme ich wahr, die zu unterschiedlichen Wahrnehmungen vom „in der Welt sein“ führen.
Überlebst du „nur“?
Fühlt sich dein Leben angenehm an?
Bist du innerlich auf Wachstumskurs?
Vielleich lohnt es sich, ausgehend vom Nachschlag am Büffet sich mit diesen drei Fragen zu beschäftigen.
Überlebst du „nur“?
Wenn ich mir die verschiedenen Krisensituationen in der Welt vor Augen führe, habe ich den Eindruck, dass sich das Gesamtgeschehen negativ auf die Psyche der Menschen auswirkt. Das Leben fühlt sich nicht mehr harmonisch und bequem an. Es entsteht eine konstante innere Unruhe verbunden mit der Frage, wohin die Welt sich wohl entwickeln mag.
Als der Ukraine Krieg begann, hatte ich viele Menschen mit Zukunftsängsten in meiner Beratung. Das hat sich inzwischen verändert. Es sind jetzt viel häufiger die Themen Erschöpfung, Resignation und Hilflosigkeit.
Da tauchen Sätze und Gedanken auf wie: „Das kann ich nicht mehr aushalten…“, „da gibt es keine Lösung für…“, „ich sehe kein Licht am Horizont…“, „ich kann nur hoffen, dass es irgendwann besser wird…“
Ich erlebe Menschen in sehr tiefen persönlichen Lebenskrisen, die dann den Blick auf die Welt richten mit wachsender Inflation, drohender Arbeitslosigkeit und zunehmende Konfliktherde und sich das Leben damit noch schwerer machen als es eh schon ist.
Andere möchten dieses Gefühl von Hilflosigkeit gar nicht erst zulassen und wenden schnell die Augen ab. Bloß nichts davon hören! Dann muss ich auch nichts spüren und fühlen. Vielleicht wird es dir gerade auch zu viel, wenn ich diese Zeilen schreibe, und vor deinem geistigen Auge tauchen deine Ohnmachtssituationen auf. „Das muss ich nicht haben!“ „Schon wieder diese Elends Leier!“ Ich würde vielleicht auch an dieser Stelle den Brief beiseitelegen und nicht weiterlesen. Du hättest mein größtes Verständnis.
Überlebst du „nur“? Dahinter verbirgt sich zugleich die wichtige Erkenntnis, dass du immerhin noch nicht tot bist. Tot sein wäre eindeutig schlimmer! Solange du noch nicht tot bist, bleiben dir Möglichkeiten zur Veränderung.
Vielleicht bin ich zum Glück nicht nur so eben noch am Leben – vielleicht gibt es ab und zu so eine kleine Ausnahmefreude! Ein netter Mensch, den ich mag und der mich mag. Der Kaffee, der mir immer noch schmeckt. Ich habe ein Dach über dem Kopf und lebe in einem gewissen Maß von Sicherheit und Geborgenheit.
Im Überlebensmodus kommt es darauf an, nicht einzuschlafen vor Erschöpfung und zugleich irgendwie automatisiert den Alltag zu überstehen. Wie ließe sich das „nur“ überleben überwinden?
Ich könnte das Staunen neu lernen. Das Staunen über die einfachen Dinge! Im Sommer habe an einem Clown Workshop teilgenommen. Der Ausbildungsclown lud uns ein, mit der roten Pappnase durch den Raum zu laufen und zu spüren und laut zu rufen: „Schau mal! Ich kann laufen!“ „Ich kann echt laufen! Da bin ich schon ziemlich gut drin! Wow, du kannst auch laufen! Fantastisch, nicht wahr!“
Das Laufen wird zum Wunder, wenn ich hin spüre und meine Aufmerksamkeit darauf richte. Es gab eine Phase in meinem Leben, da konnte ich das noch nicht. Laufen gehört zu meinen ersten Erfolgserlebnissen. Das habe ich gelernt und ich kann es bis heute.
Wir brauchen vier Umarmungen am Tag, um zu Überleben. Worin bestehen also deine Überlebensumarmungen? Welche Gedanken helfen dir dabei? Wohin richtest du deine Aufmerksamkeit? Was funktioniert immer, auch wenn du unglücklich oder erschöpft bist? Überlebensumarmungen sind echte Krisenhelfer. Immerhin vier an der Zahl und nicht nichts!
Bei einer Fortbildung verteilte eine Kollegin Kärtchen im Format einer Kreditkarte und lud uns ein, drei wichtige Dinge aufzuschreiben, die uns in einer Krise helfen können. Was könnte auf deiner Karte stehen? „Tief ein- und ausatmen?“ „Jemanden anrufen?“ „Ein kleiner Spaziergang?“ Was wäre deine wichtigste Basisumarmung? Die erste Umarmung, die du selbst initiieren kannst? Für manche könnte es auch ein Stoßgebet sein.
Fühlt sich dein Leben angenehm an?
Zur Erinnerung: wir brauchen acht Umarmungen, um uns gut zu fühlen. Es gibt also eine Phase bei den Umarmungen, wo wir den Überlebensmodus verlassen und uns entspannen können.
Wenn das Überleben erst einmal gesichert ist, bin ich in der Lage, wieder besser für mich zu sorgen. Bei der Anleitung zur Meditation lade ich in der Regel dazu ein, sich auf der Körperebene zu entspannen. Wie magst du sitzen? Was braucht dein Körper gerade? Wie fließt dein Atem? Dabei geht es darum, zunächst einfach einmal wahrzunehmen, was ist. Dann gibt es eine Einladung dahin, den Atem noch etwas zu vertiefen, den Raum etwas auszuweiten. Sich die Erlaubnisgeben, noch tiefer zu entspannen. Freundliche Zuwendung zu den Stellen schicken, die sich gerade noch angespannt anfühlen.
Je wohler ich mich fühle, desto mehr kann sich Körper und Geist entspannen und meditieren. Wenn das Überleben gesichert ist, kann ich in die Ausdehnung gehen. Ich glaube, dass wir Menschen es automatisch machen. Ich bin auf einer Party eingeladen. Zunächst der Überlebensmodus: Finde ich den Weg und einen Parkplatz? Bin ich willkommen und wird mein Geschenk akzeptiert? Gibt es Menschen, die ich kenne? Wo sitze oder stehe ich? Bin ich mit Nahrung und Getränken versorgt? Wenn das alles geklärt ist, kann ich in das Wohlfühlen gehen. Ich spüre meinen Hunger und kann das Essen genießen. Ich stehe mit netten Menschen zusammen und wir erzählen und lachen. Meine Befürchtungen und Sorgen zerstreuen sich, ich verliere das Zeitgefühl und mein ganzes Körpersystem entspannt sich mehr und mehr.
Wir benötigen also acht Umarmungen, um uns wohlzufühlen. Besitzt du die Fähigkeit, Wege zu finden in dein Wohlbefinden? Oder bist du so mit dem Überleben beschäftigt, dass es dafür keinen Raum gibt? In welchen Situationen fühlst du dich besonders wohl und wie kannst du gut für dich sorgen? Vielleicht bewegst du dich ja schon immer und grundsätzlich in dieser Wohlfühlzone und Überleben ist völlig jenseits deiner Erfahrung. Ich kenne solche Menschen, die völlig in sich ruhen, mit sich und der Welt verbunden sind und immer entspannt und zugewandt wirken. Gehörst du zu diesen Menschen? Meinen herzlichen Glückwunsch! Dann meint das Schicksal es vielleicht gut mit dir? Du hast viel Glück in deinem Leben? Oder du besitzt die kostbare Fähigkeit, in allem das Gute zu sehen und dich sehr gesegnet zu fühlen.
Wenn du nicht zu dieser Gruppe gehörst, dann möchte ich dich einladen, einmal wahrzunehmen, ob Teile von dir sich wohlfühlen können, wenn schon nicht dein ganzes Wesen. Oder ob es bestimmte Tageszeiten gibt, wo bei dir auch ein leichtes Wohlbefinden entstehen kann. Und vielleicht wäre es hilfreich, wenn du wirklich einfach mehr Menschen umarmen würdest. Das Schöne am Umarmen besteht darin, dass du andere umarmst und dabei selbst umarmt wirst. Eine Win-win Situation!
Bist du innerlich auf Wachstumskurs?
Zwölf Umarmungen benötigen wir für das innerliche Wachsen. Jenseits des Überlebens und Wohlfühlens öffnet sich die Möglichkeit, dass es um meine Weiterentwicklung geht.
Wenn ich mich nicht mehr beschäftigen muss mit den frühkindlichen Traumata und allen Kränkungen und Verletzungen… Wenn ich nicht mehr ständig kontrollieren muss, ob ich sicher genug bin… Wenn ich es geschafft habe, mich zu entspannen und mich wohl in meiner Haut zu fühlen… Wenn ich die Menschen mag und die Menschen mich und ich den Eindruck habe, mitten im Leben zu sein…
Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, öffnet sich der Freiraum für Mehr. In manchen Sportarten gibt es Pflicht und Kür. Für mich würden die vier Umarmungen der Pflicht entsprechen und die acht Umarmungen der Kür. Wenn ich innerlich wachse, befinde ich mich wie selbstverständlich im Bereich von Pflicht und Kür und zugleich aber auch jenseits davon. Es geht dann um das Erleben, dass ich meine Schöpfungsqualität entdecke. Ich lebe meine ureigene Berufung und erinnere mich daran, wer ich von Ewigkeit her bin. Spirituell gesprochen entdecke ich die göttliche Quelle in mir und lebe daraus. Ich werde immer weniger von außen und den Ereignissen bestimmt und definiert, sondern ich bestimme und definiere. Ich bin nicht mehr so beschäftigt mit den alltäglichen Lebensprogrammen von Sicherheit und Wohlbefinden. Ich lebe aus der Fülle der Umarmungen.
Was geschieht im Raum jenseits von Pflicht und Kür im Feld der zwölf Umarmungen und mehr? Worum geht es beim inneren Wachstum? Was geschieht, wenn ich mich nicht mehr um die Alltagsgeschäfte kümmern muss?
Für mich öffnet sich dann der Raum der Kreativität, der Lust und Freude, des Abenteuers und der Entdeckungen. In diesem Raum muss ich nicht mehr rechnen und gegenrechnen. Was gebe ich und was bekomme ich dafür? Was ist ungerecht und was wäre gerechter? Was muss ich tun, um richtig zu sein?
Ich betrete dann den Raum, wo ich dem Geheimnis meines Lebens auf die Spur komme und entdecke, worin meine Berufung besteht und was unbedingt zu mir gehört in meiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit.
Und? Kennst du solche Phasen des inneren Wachsens? Hast du dafür genug Umarmungen bekommen, dass sich das schon ereignen durfte? Ich wünsche es dir von ganzem Herzen. Und ich wünsche dir, dass du auf Umarmungen ausgerichtet bist. Und dass eine „Zugabe“ immer und überall als Geschenk auf dich wartet.
Und hier der gesamte Newsletter zum downloaden